Eine wichtige Entscheidung steht kurz bevor: Spätestens am 30. Juni teilt die Mindestlohnkommission mit, wie viel die Lohnuntergrenze von derzeit 12,82 Euro ab 2026 steigt. Gewerkschaften und Sozialverbände verlangen eine deutliche Erhöhung, Arbeitgeberverbände warnen davor. Im Raum steht die Zahl 15 in Schritten. Der Bundeskanzler will der Empfehlung in jedem Fall folgen. Andere Stimmen, so der SoVD, fordern mehr – notfalls auch eine gesetzliche Anpassung.
Viele Menschen kämpfen noch immer mit den Folgen der vergangenen Krisenjahre. Die Inflation hat ihre finanziellen Reserven aufgezehrt, und die Reallöhne in Deutschland liegen weiterhin unter dem Niveau von 2019. CDU / CSU und SPD haben sich deshalb in ihrem Koalitionsvertrag zum gesetzlichen Mindestlohn bekannt, der einen Beitrag zur stärkeren Kaufkraft leisten müsse.
Grundlage der geplanten Erhöhung ist eine EU-Mindestlohnrichtlinie. Diese wurde im Oktober 2022 beschlossen; damals stimmte der ehemalige Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) für Deutschland zu.
EU-Richtlinie soll Armut bekämpfen und verhindern
Die Richtlinie, die vor allem der Armutsbekämpfung dient, sieht vor, dass jedes EU-Mitglied einen Mindestlohn haben muss, mit dem ein*e Vollzeitbeschäftigte*r mindestens 60 Prozent des Medianlohns aller Vollzeitbeschäftigten eines Landes erreicht. Dieser Wert markiert gemeinhin die Grenze zur Armutsgefährdung.
Doch die aktuelle Höhe des gesetzlichen Mindestlohnes von derzeit 12,82 Euro entspricht bei Weitem nicht diesem international anerkannten und in der EU-Mindestlohnrichtlinie festgeschriebenen Referenzwert. Nach Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung müsste der Mindestlohn demnach bereits in diesem Jahr bei 15,12 Euro liegen. Noch vor Kurzem trat die SoVD-Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier deshalb unter anderen in Stern TV öffentlich für diese Höhe ein.
Engelmeier ist überzeugt: „Um Erwerbs- und Altersarmut wirksam zu bekämpfen, muss die Lohnuntergrenze noch in diesem Jahr auf 15,12 Euro steigen, jährlich angepasst und schärfer kontrolliert werden. Millionen Beschäftigte brauchen einen Lohn, der zum Leben reicht, und eine Rente, die im Alter vor Armut schützt.“ Dies sei eine der drängendsten sozialpolitischen Aufgaben, so die SoVD-Vorstandsvorsitzende weiter; sie bekräftigt: „Ein Mindestlohn von 15,12 Euro ist deshalb nicht nur wünschenswert, sondern notwendig, und zwar so schnell wie möglich!“ Mit dieser Forderung wurde Engelmeier auch in der Deutschen Presseagentur (dpa) zitiert.
Mindestlohnkommission unter enormem Druck
Jetzt gehen die vertraulichen Verhandlungen zwischen Spitzenvertreter*innen von Gewerkschaften und Arbeitgeber*innen in die Schlussphase (Stand bei Redaktionsschluss am 24. Juni).
Der SoVD begrüßt dabei ausdrücklich, dass sich die Mindestlohnkommission im Januar 2025 in ihrer Geschäftsordnung darauf verständigt hat, dass sie sich zur Festsetzung im Rahmen einer Gesamtabwägung „nachlaufend an der Tarifentwicklung sowie am Referenzwert von 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten“ orientieren wird. „Der international anerkannte Wert ist durchaus dazu geeignet, einen armutsfesten Mindestlohn festzulegen.“
Dabei ist man sich im Verband durchaus bewusst, wie hoch der Druck auf die Kommission ist und wie kompliziert es überhaupt ist, unter Berücksichtigung aller Faktoren eine angemessene Höhe errechnen zu können.
Gesetzliche Lohnuntergrenze ist schwer zu ermitteln
So spielen bei der Hauptabwägung, die Lohnuntergrenze nicht zu niedrig für die Beschäftigten ausfallen zu lassen, aber auch nicht so hoch, dass Arbeitsplätze gefährdet sein könnten, etliche Faktoren eine Rolle. Einige davon sind elementar, bei anderen geht es um Details, die berücksichtigt werden wollen.
Ein Beispiel: Beim Mindestlohn muss nicht der Monats-, sondern ein Stundenwert errechnet werden. Wenn man aber von „allen“ Vollzeitbeschäftigten spricht, bedeutet dies nicht zwangsläufig das Gleiche. Denn Vollzeitstellen können zwischen 36 und 42 Stunden variieren. Dazu kommen unterschiedlich viele Urlaubs- und Feiertage, abhängig von Jahr und Job. Im Allgemeinen wird deswegen mit einer 38,5-Stunden-Woche und rund 167 Arbeitsstunden pro Monat gerechnet.
Zu den wesentlichen Faktoren, die aus Sicht der SoVD gegenwärtig noch kaum Berücksichtigung finden, gehört: Um Armut vorzubeugen, müsste künftig einkalkuliert werden, dass sich der zu ermittelnde Wert bislang jeweils allein auf die aktuelle Situation von Beschäftigten bezieht. Damit Menschen, die an der Lohnuntergrenze arbeiten, im nächsten Jahr nicht wieder unter die Armutsgefährdungsgrenze abgleiten, müsste der Mindestlohn parallel zum Median-Einkommen steigen und nicht erst zeitversetzt.
Der Schutz, der mit dem Mindestlohn einhergehen soll, wirkt überdies nur für Beschäftigte, die sich in Vollzeit noch im Erwerbsleben befinden. Bei Renteneintritt sind viele erneut der Gefahr von Verarmung ausgesetzt.
Das gilt umso mehr, als Menschen mit einem Stundenlohn von 15 Euro auch nach 45 Beitragsjahren gerade mal auf monatlich rund 1.100 Euro Rentenhöhe kommen. Darauf weist die SoVD-Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier ebenfalls hin.
Armutsfester Mindestlohnwichtig für Zusammenhalt
Auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft, die sich überaus deutlich in den Wahlergebnissen der Bundestagswahl 2025 und der vergangenen Landtagswahlen spiegelte, zeigt sich, wie wichtig ein armutsfester Mindestlohn ist. Davon ist der SoVD überzeugt. Der Zusammenhang zwischen Einkommenshöhe und politischer sowie materieller Teilhabe sei bereits im WSI-Verteilungsbericht 2024 deutlich geworden, betont Engelmeier klar: „Armut schränkt Teilhabe ein, weil es zum Beispiel an Gütern des täglichen Bedarfs mangelt und ebenso für soziale Aktivitäten wie einen Kinobesuch das Geld oft nicht ausreicht – auch deshalb dürfen wir nicht locker lassen!“
Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes auf 15 Euro fänden im Übrigen 66 Prozent der Menschen richtig. 32 Prozent nannten dies „falsch“. Das geht aus einer Forsa-Umfrage hervor, die der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in Auftrag gegeben hatte. Auffallend ist dabei, dass vor allem Anhänger*innen von AfD und FDP mehrheitlich dagegen stimmten.
Nun bleibt die Entscheidung der Kommission abzuwarten. Die SoVD-Vorstandsvorsitzende fordert die Koalition auf, einzugreifen, falls die EU die Vorgaben für 60 Prozent des mittleren Lohnes nicht berücksichtigt. „Dann muss die Politik überlegen, wie sie hier nachbessern kann!“