Oliver Hilmes hegt eine ebenso große Leidenschaft für Musik wie für Geschichte. Während Hilmes zum einen für die Stiftung Berliner Philharmoniker arbeitet, schreibt der promovierte Historiker zum anderen Biografien und Bücher zu geschichtsträchtigen Themen. In „Ein Ende und ein Anfang“ etwa widmet er sich den Monaten nach der Kapitulation am 8. Mai. Mit der SoVD-Zeitung sprach Oliver Hilmes über seinen Blick auf die damaligen Ereignisse und seine Einschätzung darüber, wie diese sich bis heute auf unser Leben auswirken.
In Ihren Büchern beschäftigen Sie sich oft mit den 1930er- und 1940er-Jahren. Was reizt Sie an dieser Zeit so besonders?
Für mich als Historiker sind die Weimarer Republik und das darauf folgende sogenannte Dritte Reich einfach unglaublich faszinierende Epochen. Ich frage mich dabei immer, wie es dazu kommen konnte, dass sich nach der Phase einer liberalen Demokratie in Deutschland ein derartiger Abgrund auftun konnte.
Es gibt immer weniger Menschen, die den Zweiten Weltkrieg noch selbst erlebt haben. Verblasst damit unsere Wahrnehmung dieser Zeit?
Was uns verloren geht, ist der unmittelbare Zugang zu Menschen, die eigene Erfahrungen von damals schildern können. Das ist natürlich eine ganz andere Art, Geschichte zu vermitteln. Ich kann mich zum Beispiel noch sehr gut erinnern, dass meine Großmutter väterlicherseits uns Kindern von dieser Zeit erzählt hat. Wir konnten somit an ihren Erinnerungen teilhaben. Das ist heutigen Generationen in der Form leider kaum noch möglich.
Taucht die Zeit von vor 80 Jahren also gar nicht mehr in unserem Alltag auf?
Das kommt darauf an. Hier in Berlin zum Beispiel kann man die Folgen des Krieges an fast jeder Ecke sehen. Da sind zum einen die Baulücken, die man infolge der großen Zerstörung möglichst schnell und ohne Rücksicht auf Ästhetik geschlossen hat. Zum anderen stehen in manchen Bezirken noch Häuser, deren Fassaden bis heute nicht saniert wurden. Da kann man den Finger in die Einschusslöcher legen und denkt: „Wow, hier ist die Zeit echt stehen geblieben!“
Sie haben Ihr Buch „Ein Ende und ein Anfang“ genannt. Wie kam es zu diesem Titel?
Der Titel hat sich nahezu von selbst ergeben. Das Buch beginnt am 8. Mai, dem Tag der deutschen Kapitulation, und führt die Leserinnen und Leser durch das Frühjahr bis zum 2. September, dem Tag der japanischen Kapitulation, die den Zweiten Weltkrieg formal beendete. So entsteht die Geschichte des Sommers 1945: Das „Dritte Reich“ ist am Ende und eine neue Welt nimmt ihren Anfang.
Dabei widmen Sie sich nicht nur dem Schicksal von Persönlichkeiten wie Klaus Mann oder Billy Wilder, sondern auch dem einer einfachen Hausfrau.
Ja, diese Frau hieß Else Tietze, und ich bin in einem Archiv auf ihr Tagebuch gestoßen. Das ist ganz spannend, weil Else Tietze eigentlich nie Tagebuch geschrieben hat. Aber sie hat einmal eine Ausnahme gemacht, und das war im Sommer 1945, weil sie einfach nicht wusste, ob ihre Kinder überlebt haben. Und sie wollte damit eine Art Rechenschaftsbericht ablegen und ihren Kindern erzählen, was passiert ist und was sie erlebt hat in diesen ersten Wochen und Monaten nach der deutschen Kapitulation. So ist dieses Tagebuch entstanden. Es bietet noch einmal eine ganz andere Perspektive und zeigt, wie die sprichwörtlichen Menschen von der Straße, die ja ansonsten keine Spuren in der Weltgeschichte hinterlassen haben, diesen Sommer erlebten.
Was machte den Sommer ’45 so besonders, dass er, wie Sie schreiben, die Welt veränderte?
Ein bedeutendes Ereignis im Juli vor 80 Jahren war die Potsdamer Konferenz. Auf dieser berieten die USA, die Sowjetunion und Großbritannien über eine Nachkriegsordnung für Europa. Dabei setzte sich bei US-Präsident Truman mehr und mehr die Erkenntnis fest, dass den Russen eigentlich nicht zu trauen sei. Unter diesem Eindruck richteten die Amerikaner dann in den folgenden Monaten ihre Außenpolitik neu aus. Mit der sogenannten Truman-Doktrin vom März 1947 sicherten die USA schließlich allen Völkern, die in Freiheit leben wollten, ihre Unterstützung zu, damit diese eben nicht unter den Einfluss Moskaus gerieten. Diese Garantie galt im Grunde bis vor Kurzem und wurde erst unter Donald Trump widerrufen, dem es nach eigener Aussage völlig egal zu sein scheint, was beispielsweise mit der Ukraine passiert. Das ist, salopp gesprochen, der Scherbenhaufen, vor dem wir gerade stehen. Und diese endgültige Abkehr der USA von der Truman-Doktrin ist ein Detail, das den Jahrestag des Kriegsendes und den Sommer 1945 eben gerade jetzt besonders aktuell macht.
Oliver Hilmes‘ Buch „Ein Ende und ein Anfang“ ist erschienen bei Siedler (ISBN: 978-3-8275-0189-9) und kostet 25 Euro.